ELENA – dieser hübsche Name steht für Extra Low ENergy Antiproton Deceleration Ring, einen 30 m breiten Abbremsring am CERN, der die 5,3-MeV-Antiprotonen aus dem bestehenden CERN-Antiprotonenverzögerer auf sagenhafte 0,1 MeV herunterbremst und anschließend über sogenannte Penning-Magnetfallen einfängt und mit Positronen zu Antiwasserstoff vereinigt.
Die Ganzmetall-Vakuumventiltechnologie von VAT spielt dabei eine wichtige Rolle, da sie unter den Betriebsbedingungen von hoher Temperatur und Strahlung ihre volle Funktionalität beibehält. Die dynamische Hart-auf-Hart-Dichtungstechnologie kombiniert wiederholbare hermetische Abdichtung unter XHV-Bedingungen mit einer Ganzmetallkonstruktion.
Untersuchung einzelner Antiwasserstoffatome
Das zentrale Ziel von ELENA besteht darin, Antimaterie so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Mit großem Erfolg: Derzeit werden bei ELENA Antimaterie-Lebenszeiten zwischen 15 Minuten und einem Jahr erreicht! Doch auch Versuche, Antimaterie in sogenannten Kryotraps – transportablen Fallen mit Kryostaten, in denen Drücke bis zu 10-18 mbar erreicht werden – einzufangen, stehen weit oben auf der ELENA-Agenda (unter PUMA-Experiment finden sich weitere Details hierzu).
Angesichts der extremen Kurzlebigkeit von Antimaterie müssen bei der ELANA-Anlage verschiedenste Ventil- und vakuumtechnische Besonderheiten berücksichtigt werden. Beispielsweise müssen alle Ein- und Ausgänge im Abbremsring komplett metallisch abgedichtet sein, um die geforderten Drücke und Ausgasungswerte einhalten zu können. Hier bringt VAT sein langjähriges XHV-Knowhow wertvoll ein, u.a. in Form der bewährten Ganzmetallschieber der VAT-Baureihe 48.
Eine weitere Aufgabe, die die ELENA-Forscher auf ihrem Zettel haben: Antiwasserstoffatome spektroskopisch zu untersuchen, um dann im Rahmen des GBAR-Experiments (kurz für Gravitational Behaviour of Antimatter at Rest) die Wirkung der Gravitationskraft auf Materie und Antimaterie miteinander zu vergleichen. Zu diesem Zweck werden die elektrisch neutralen Antiwasserstoffatome aus einer Höhe von 20 Zentimetern fallengelassen und anschließend der Fallverlauf bis zu deren Ableben aufgezeichnet. Dank ELENAs ausgezeichneter Fähigkeit, die zu untersuchenden Antiatome möglichst „ruhig“ zu halten, lassen sich so selbst kleinste Unterschiede im Verhalten von Materie und Antimaterie in Bezug auf die vergleichsweise schwache Gravitationskraft nachweisen.
Im Oktober 2018 erhielt GBAR seinen ersten Antiprotonenstrahl von ELENA. Seither arbeiten die Wissenschaftler fieberhaft an Forschungsergebnissen, um der Lösung des großen Rätsels rund um die asymmetrische Verteilung von Materie und Antimaterie im Universum ein Stück näher zu kommen. Dabei setzen sie auch auf VAT-Ganz-Metall-Vakuumventiltechnologie.
Das gegensätzliche Wesen der Antimaterie
Aber was ist eigentlich Antimaterie? Nun, Antimaterie ist Materie, die aus Antiteilchen besteht. Und was sind dann Antiteilchen? Nun, Antiteilchen sind ihren Materie-Kollegen zum Verwechseln ähnlich, haben jedoch eine jeweils entgegengesetzte elektrische Ladung. Während Protonen zum Beispiel positiv geladen sind, tragen Antiprotonen eine negative Elementarladung. Und das positiv geladene Antiteilchen zum Elektron ist das Antielektron, wegen seiner positiven Ladung auch Positron genannt. Die Existenz solcher „Partner-Teilchen“ wurde erstmals 1928 postuliert, und zwar vom theoretischen Physiker Paul Dirac. Als dieser nämlich die später nach ihm benannte Dirac-Gleichung – eine auf der speziellen Relativitätstheorie beruhende Wellengleichung zur Beschreibung von Elektronen – genauer untersuchte, fand er zu seiner Überraschung, dass seine Gleichung stets zwei mögliche Lösungen ausspuckte, eine mit positiver und eine mit negativer Energie.
Nach reiflicher Überlegung kam Dirac zum Schluss, dass diese mathematische Kuriosität tatsächlich einen physikalischen Sachverhalt widerspiegeln könnte, indem die beiden Lösungen als zwei verschiedene Teilchen interpretiert werden: ein Teilchen als das altbekannte Elektron und das andere Teilchen als massegleiches Antielektron, dessen entgegengesetzte Ladung plausibel macht, warum die Energien der beiden Teilchen unterschiedliche Vorzeichen haben.
Antimaterie ist kein Hirngespinst
Klingt bizarr; und entsprechend verwundert es kaum, dass Diracs Idee zunächst auf ziemliches Unverständnis in der Wissenschafts-Community stieß. Doch nur vier Jahre später, am 2. August 1932, machte der US-amerikanische Physiker Carl David Anderson eine bemerkenswerte Entdeckung. Anderson arbeitete damals an einer Detailanalyse der aus dem Kosmos einfallenden Teilchenstrahlung. Mithilfe einer Nebelkammer visualisierte er die Laufwege aller Teilchen und konnte so wertvolle Rückschlüsse auf deren Eigenschaften ziehen. Dabei war ihm ein ganz besonderes Teilchen aufgefallen, dessen Masse ziemlich genau der des Elektrons entsprach, das jedoch eine genau entgegengesetzte, positive Ladung aufwies. Zunächst konnte sich niemand einen Reim auf diesen Fund machen. Doch schon bald erinnerte sich die Fachwelt an Dirac und seine Hypothese eines positiv geladenen Elektrons. Ebendiese Hypothese fand sich nun durch Andersons Experiment bestätigt – Anderson hatte das Antiteilchen des Elektrons gefunden!
Schon bald war klar, dass jedes bekannte Elementarteilchen einen Partner, also ein Antiteilchen, hat. Das Antiproton wurde erstmals 1955 bei Experimenten am Bevatron-Teilchenbeschleuniger nachgewiesen, und das Antineutron folgte 1956. Kurze Zeit später folgten Antideuterium-, Antitritium- und Antiheliumkerne. Heute sind Antiteilchen ein selbstverständlicher Bestandteil des Standardmodells zur Beschreibung aller im Universum vorkommenden Elementarteilchen bzw. -kräfte. Alle bisherigen Experimente und Theorien ergeben ein weitgehend identisches physikalisches Verhalten von Materie und Antimaterie, es handelt sich also wirklich um „Partner-Teilchen“ und nicht bloß zufällige Übereinstimmungen bestimmter Parameter.
Materie und Antimaterie löschen sich aus
Am deutlichsten wird die Tatsache, dass Teilchen und Antiteilchen „gemeinsame Sache“ machen, am Phänomen der Paarvernichtung. Trifft nämlich ein Antiteilchen mit seinem materiellen Partner-Teilchen zusammen, so vernichten sich die beiden Teilchen gegenseitig. Dabei wird gemäß Einsteins berühmter Formel E = mc2 die gesamte Masse beider Teilchen als Energie frei – bei der Elektron-Positron-Vernichtung vollständig als elektromagnetische Strahlung, bei schwereren Paaren mitunter auch in Form anderer Teilchen.
Auch umgekehrt kann dank Einsteins Energie-Masse-Formel quasi aus dem Nichts ein Elektron-Positron-Paar entstehen: aus einem hochenergetischen, elektrisch neutralen Photon materialisieren zwei Teilchen, deren Masse der Energie der zugrundeliegenden Strahlung entspricht und deren entgegengesetzte Ladungen garantieren, dass dennoch die elektrische Gesamtladung (in diesem Fall: keine Ladung) erhalten bleibt.
Aus Antiteilchen werden Antimoleküle
Aber nicht nur das: Ganz analog zu ihren materiellen Partnerteilchen können sich auch Antiteilchen zu Atom- bzw. Molekülverbänden zusammenschließen. So haben Antiatome Hüllen aus Antielektronen und Kerne, die aus Antiprotonen und Antineutronen aufgebaut sind!
Leichte Antiteilchen wie Positronen werden beispielsweise in der natürlichen kosmischen Strahlung beobachtet. Auch beim Zerfall von radioaktiven Präparaten können Positronen entstehen – diesen Effekt machen sich Mediziner zunutze, um mit sogenannten PET-Scannern (kurz für Positronen-Emissions-Tomografie) Tumore im Frühstadium zu erkennen. Da freie Antimaterie jedoch binnen kürzester Zeit mit Materie reagiert und dabei zerstrahlt, kommen schwerere Antiteilchen nur extrem selten und Antiatome oder -moleküle gar nicht natürlich vor. (Der schwerste bisher beobachtete Antiatomkern ist Antihelium 4, und zwar im Jahr 2011 bei Experimenten im Relativistic Heavy Ion Collider des Brookhaven National Laboratory in den USA.) Hier kommen Forschungsanlagen wie eben ELENA ins Spiel, wo sich Substanzen wie Antiwasserstoff mithilfe von Paarbildungsreaktionen künstlich herstellen lassen.
Mithilfe des Abbremsrings ELENA wollen Forscher am CERN den noch verbleibenden Geheimnissen rund um Antimaterie-Teilchen auf die Spur kommen.
Quelle: CERN (Maximilien Brice.)
Erzeugung von Antiatomen
Dazu braucht es zuerst einmal (negativ geladene) Antiprotonen und (positiv geladene) Positronen. Die Antiprotonen werden in einer speziellen CERN-Anlage erzeugt, indem ein sehr energiereicher Protonenstrahl auf eine Iridium-Probe geschossen wird. Die dabei entstehenden Antiprotonen werden dann im ELENA-Abbremsring gekühlt, abgebremst und in einer magnetischen „Falle“ eingesperrt. Die Positronen hingegen stammen aus einem radioaktiven Na-22-Atomkern, und auch sie müssen nach ihrem Austritt gekühlt und eingefangen werden. Anschließend ist Geduld gefragt, denn damit sich die kalten Antiteilchen zu einem Antiwasserstoffatom verbinden, müssen genau zur rechten Zeit ein Antiproton und zwei Positronen am rechten Ort sein (sogenannte Drei-Teilchen-Rekombination). Anschließend muss „nur“ noch eines der Positronen abgetrennt werden – fertig ist das Antiwasserstoffatom!
Natürlich ist der eben beschriebene Prozess alles andere als trivial und erfordert wissenschaftliches Arbeiten auf allerhöchstem Niveau. ELENA ist eine weitere CERN-Anwendung, die den Bereich des technisch Machbaren voll ausschöpft. Dazu Alexandre Sinturel, ein Mitarbeiter im ELENA-Team: „Mit diesem Projekt sind wir echte Pioniere, die an die Grenzen der Wissenschaft stoßen!“
Vor allem die Vakuumventile rund um ELENA müssen über eine extrem hohe Präzision und Verlässlichkeit verfügen, schließlich arbeitet der größte Teil der Maschine unter XHV-Bedingungen, d.h. in einem Druckbereich zwischen 10-11 und 10-12 mbar. „Um solch ein niedriges Vakuum zu erreichen, müssen alle Bauteile frei von flüchtigen Stoffen sein, sonst würde das Vakuumsystem inakzeptabel verunreinigt“, beschreibt Alexandre Sinturel die Problematik. „Entsprechend müssen wir umfangreiche Ausheizarbeiten vornehmen, und weil beim Ausheizen große Hitze eingesetzt wird, benötigen wir Vakuumkomponenten, die der entsprechenden Wärmebelastung während des Backens standhalten können.“
XHV-Vakuum dank VAT-Ganzmetallschiebern
Konkret haben sich die ELENA-Entwickler für spezielle VAT-Ganzmetallschieber der VAT-Baureihe 48 (DN 63 und DN 100) entschieden, die über zwei seitliche Anschlüsse (DN 40) mit CF-Flansch verfügen. „Die Ganzmetallschieber der Baureihe 48 sind für die zuverlässige Absperrung in UHV- und XHV-Anwendungen mit hohen Umgebungstemperaturen am Ventil von bis zu 300°C konzipiert. Sie können auch einer Strahlung von bis zu 108 Gy widerstehen“, beschreibt Jürg Öhri, der bei VAT verantwortliche Sales Manager, die Vorteile dieser Ventilgruppe. Einer der beiden Anschlüsse dient der kontinuierlichen Messung des Vakuumniveaus rund um den Ventilteller. Der zweite Anschluss hat je nach Lage des Ventils zwei Funktionen. Dazu Alexandre Sinturel: „Wenn ein Sektor aus Wartungsgründen belüftet werden muss, können wir über diesen Anschluss eine Vorvakuumpumpe anschließen, um den betreffenden Sektor wieder unter Vakuum zu setzen. Andererseits dient er uns auch als Einspritzanschluss für Neongas.“
Warum Neon? Hier weiß Jürg Öhri um die technischen Hintergründe: „Um den geforderten XHV-Vakuumbereich verlässlich erreichen zu können, musste die Innenseite des gesamten Abbremsrings mit NEG (Non-Evaporable Getter) beschichtet werden. Wenn der Ring jedoch belüftet wird, taucht das Problem auf, dass die NEG-Beschichtung sehr empfindlich auf Sauerstoff reagiert. Deshalb wird zuerst Neongas eingeleitet, wodurch die Beschichtung gewissermaßen in Schlaf versetzt wird.“ Dieses technisch sehr anspruchsvolle Verfahren ist die Mühe definitiv wert, wie Alexandre Sinturel freudig zu berichten weiß: „Die NEG-Beschichtung, die als UHV-Pumpe dient, ermöglicht in Kombination mit anderen Pumpen eine enorme Pumpgeschwindigkeit!“
Minimale Ausgasung bitte!
Eine weitere technische Besonderheit bei ELENA besteht darin, dass die Ventile häufig bewegt werden müssen, selbst wenn kein Antimateriestrahl durch den Ring saust. Der Grund dafür ist laut Jürg Öhri so banal wie zentral: „Durch das regelmäßige Öffnen und Schließen der Ventile wird verhindert, dass Moleküle am Balg des Ventils hängenbleiben, weil diese sonst während der Strahlzeit ausgasen könnten. Ausgasung ist bei dieser Anlage wirklich der absolute Knackpunkt!“
Wahrlich eine Vielzahl an technischen und konzeptuellen Herausforderungen, vor die ELENA da ihre Erfinder stellte. Doch die CERN-Entwickler haben wieder einmal exzellente Arbeit geleistet und mit ELENA einen weiteren Meilenstein der Wissenschaft gesetzt! Schon ELENA’s Vorgängerin LEAR (kurz für Low Energy Antiproton Ring) hatte 1995 für großes Aufsehen gesorgt, als Forschern dort erstmal der Nachweis einiger Antiwasserstoffatome gelang. Im Jahr 2010 stellten die LEAR-Forscher dann 38 einzelne Antiwasserstoffatome her, von denen manche bis zu einer Viertelstunde alt wurden! Es folgten immer genaue Vermessungen der Antimaterie, und jede Messung bestätigte Diracs Vermutung, wonach sich Materie und Antimaterie bis auf das Ladungsvorzeichen gleichen wie ein Ei dem anderen.
ELENA kommt ins Spiel
Im Jahr 2017 wurde dann der neue Abbremsring ELENA in Betrieb genommen, um noch genauere Antimaterie-Studien durchführen zu können. Die Grundidee dabei: Je langsamer die Antiprotonen sind, desto genauer lassen sich ihre Eigenschaften messen und desto erfolgversprechender sind Versuche, sie zu manipulieren oder zu chemischen Bindungen zu bewegen. Im Vergleich zum LEAR-Layout wurde der Experimentierbereich nicht wesentlich verändert, jedoch erforderten die viel niedrigeren Strahlenergien eine radikale Neukonstruktion der elektrostatischen Transferleitungen. Durch die Strahlkühlung im ELENA-Ring lässt sich eine enorm hohe Abbremseffizienz und eine erhöhte Phasenraumdichte erreichen, was die Anzahl der eingefangenen Antiprotonen um den Faktor 10 bis 100 erhöht. An den Abbremsring sind vier Experimentierstationen (ATRAP, ALPHA, AEGIS und ASACUSA) gekoppelt, die von ELENA verlässlich mit niederenergetischen Antiprotonen von höchster Qualität beliefert werden – und weitere Experimentierzonen sind schon in Planung.
Die große Frage nach der Asymmetrie
Und alles begann mit dem nobelpreisverdächtigen – und 1933 auch mit eben diesem Preis belohnten – Positron-Geistesblitz von Paul Dirac und der ebenso genialen Entdeckung des Positrons durch Carl David Anderson, die 1936 ebenfalls durch den Physik-Nobelpreis honoriert wurde. Doch (mindestens) ein weiterer Geistesblitz derselben Kategorie wird wohl noch nötig sein, um eine ganz zentrale Frage rund um Antimaterie abschließend beantworten zu können: die Frage nämlich, warum es trotz der offensichtlichen Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie mehr Materie als Antimaterie in unserem Universum zu geben scheint. Die Ursache für dieses Ungleichgewicht ist eines der letzten großen Rätsel der Elementarteilchenphysik. Mit anderen Worten: Warum hat Materie, wie wir sie kennen, vergleichsweise lange Bestand und wird nicht von den zugehörigen Antiteilchen einkassiert und in Energie zerbröselt?
Die einfachste Hypothese wäre natürlich, dass es sich gar nicht um einen Materieüberschuss handelt, sondern dass sich die zugehörige Antimaterie gewissermaßen in fernen Winkeln des Weltalls versteckt hat, z.B. als Galaxien, die komplett aus Antimaterie bestehen. Doch diese Hypothese konnten Wissenschaftler auf der Basis der modernen kosmologischen Modelle weitgehend ausschließen. Vielmehr gehen heute die meisten Forscher davon aus, dass beim Urknall Materie und Antimaterie in gleicher Menge entstanden ist und dass der offensichtliche Materieüberschuss von einer extrem schwachen Symmetriebrechung im Anfangsstadium des Universums herrührt – so schwach, dass auf eine Milliarde Teilchen-Antiteilchen-Paare gerade mal ein Teilchen Überschuss entstand. Schon dieses minimale Ungleichgewicht liefert eine plausible Erklärung für den Überschuss an Materie, den wir im Universum vorfinden. In diesem Sinne verdanken wir alle diesem Mini-Mini-Überschuss unser Leben.
Welche Symmetrie wurde gebrochen?
Über die Hintergründe der Symmetriebrechung herrscht jedoch Uneinigkeit. Aus dem Standardmodell lässt sie sich nicht ableiten. Ursprünglich ging man davon aus, dass alle physikalisch-chemischen Prozesse mit Antiteilchen genauso ablaufen wie mit normalen Teilchen, mit anderen Worten, man ging von einer Invarianz der physikalischen Gesetze unter Ladungskonjugation, oder kurz C-Invarianz wegen des englischen Begriffs „charge“, aus. Doch schon bald zeigte sich im Rahmen von Experimenten mit Neutrinos, dass die schwache Wechselwirkung nicht C-invariant ist. Immerhin: Eine zusätzliche Vertauschung der Raumrichtungen hob die entdeckte Verletzung der C-Invarianz gerade auf, so dass zumindest die sogenannte CP-Invarianz erhalten blieb. (Das P rührt vom englischen Begriff „parity“ für Raumspiegelungen her.)
Doch der Frieden währte nicht lange, denn im Jahr 1964 beobachtete dann ein Forscherteam um den amerikanischen Physiker James Christenson beim Zerfall von sogenannten K-Mesonen eine Verletzung der kombinierten CP-Symmetrie – wofür sie 1980 mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Bald wurden mit den B-Mesonen weitere exotische Teilchen gefunden, bei denen die CP-Symmetrie gebrochen wird. Viele Wissenschaftler dachten damals, bei der Frage nach der Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie ganz dicht vor einer Lösung zu stehen! Doch dann zeigte sich, dass dieses CP-Phänomen viel zu schwach ist, um die alleinige Ursache für die beobachtbare Asymmetrie im Universum sein zu können.
Auf die CPT-Invarianz ist Verlass
Zumindest eine Symmetrie erwies sich über alle Zweifel erhaben, und das ist die CPT-Invarianz. Das berühmte CPT-Theorem – nach ihren Entdeckern auch Pauli-Lüders-Theorem genannt – besagt, dass alle physikalischen Gesetze invariant gegenüber einem gleichzeitigen Vorzeichenwechsel der Ladung (C), einer Raumspiegelung (P) und einer Umkehr der Zeitrichtung (T vom englischen Begriff „time“) sind. Diese CPT-Invarianz hat sich bisher als unumstößlich erwiesen. So konnte am BaBar-Detektor im SLAC-Forschungsinstitut in Kalifornien, wo Kollisionen von Elektronen und Positronen im Detail untersucht werden, im Jahr 2012 erstmals gezeigt werden, dass bei CP-verletzenden Prozessen wie besagtem K-Mesonen-Zerfall auch die T-Invarianz verletzt wird und somit die CP-Verletzung gerade aufgehoben ist. Und 2016 gelang es Forschern am CERN, den 1s-1s-Übergang von Antiwasserstoff im Detail zu untersuchen und eine extrem hohe Übereinstimmung mit den entsprechenden Spektrallinien von Wasserstoff zu beweisen – ein weiterer Beleg für die Gültigkeit des CPT-Theorems.
Heute gehen Forscher davon aus, dass eine zukünftige Theorie der Elementarteilchen CPT-invariant ist und dass die CP-Invarianz eine zumindest notwendige Voraussetzung für die offensichtliche Asymmetrie von Materie und Antimaterie ist. Die wissenschaftlichen Experimente rund um ELENA sollen sukzessive die restlichen Puzzlestücke aufdecken, um die große Frage nach der Materie-Antimaterie-Asymmetrie umfassend beantworten zu können.
Neue Möglichkeiten dank ELENA
Ein vielversprechender Ansatz, den die CERN-Forscher dabei verfolgen, hat mit Gravitation zu tun. Nicht zuletzt aufgrund der vergleichsweise schwachen Wirkung der Gravitationskraft ist noch nicht besonders gut erforscht, wie sich Antimaterie in Gravitationsfeldern verhält – und ob sie möglicherweise etwas anders als Materie reagiert. Mit den fast ruhenden (neutralen) Antiwasserstoff-Atomen aus ELENA und den zunehmend besser werdenden Messmethoden lassen sich nun die Effekte der Gravitation immer detaillierter untersuchen. Zwar gehen die Forscher mit großer Sicherheit davon aus, dass Antiteilchen unter der Wirkung der Schwerkraft nicht nach oben fliegen, doch schon kleinste Abweichungen könnten den entscheidenden Unterschied machen!